Transhumane Entwicklungen in Dietmar Daths Roman Venus siegt (2015)
Résumés
Cet article analyse le roman Venus siegt (2015) de Dietmar Dath à travers les thématiques des évolutions transhumaines et de l’intelligence artificielle. L’auteur donne libre cours à sa fantaisie et développe le thème de la biotechnologie impliquant des modifications génétiques de l’être humain qui, devenant cyborg, se connecte à des machines mécaniques et cybernétiques. Par ailleurs, le roman introduit l’idée d’un développement possible d’une intelligence artificielle autonome. En imaginant la possibilité de communiquer et de coopérer entre toutes sortes d’intelligences, douées de conscience et de subjectivité, Dath esquisse les contours d’une société transhumaine, mais pas au sens strict du terme. En effet, les transgressions des limites de la biologie et de la technologie sont liées à une conception de l’intelligence qui correspond à la raison humaine. C’est pourquoi il s’agit plutôt d’une société ouverte, elle-même augmentée par des machines, dans laquelle vivent des humains perfectionnés.
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Handlung von Venus siegt
- 1 Dietmar Dath: Venus siegt. Lohmar 2015 und Dietmar Dath: Venus siegt. Frankfurt am Main 2016. Aus (...)
- 2 Vgl. Stefan Herbrechter: Posthumanismus. Eine kritische Einführung. Darmstadt 2009.
1Dietmar Daths Roman Venus siegt von 2015 wurde durch einen deutlich getrennten zweiten Teil, Venus lebt, fortgesetzt. Beide Teile sind dann 2016 unter dem alten Titel in einem anderen Verlag erschienen1. Sie sind auf reale geschichtliche Vorgänge des 19. Jahrhunderts beziehbar und haben mit dem Entwurf einer antikapitalistischen gerechten Gesellschaft eine utopische politische Tendenz, aber ihr thematischer Schwerpunkt liegt eher in biotechnischen Manipulationen der Menschen und in kommunikativen und kooperativen Prozessen mit Rechenmaschinen und Programmen, die aktuelle Möglichkeiten in eine mögliche Zukunft verlängern. Was Daths Text besonders auszeichnet, ist die anthropologische Frage nach dem Wesen des Menschen und seiner Abgrenzung gegenüber den von ihm geschaffenen künstlichen Extensionen, Maschinen und Künstlichen Intelligenzen, angesichts genetisch und technisch möglicher Veränderungen. Der Autor präsentiert erzählend und ohne Einschränkung die phantastischen Möglichkeiten einer futuristischen Computer- und Biotechnologie und stellt damit auch die aktuelle Frage nach dem Trans- oder Posthumanismus2. Dessen Propagierung ist allerdings nicht das Ziel des Romans, jedenfalls geht es beim Bundwerk (D=B=K) um die Integration neuer Fähigkeiten des Menschen in sein Selbstverständnis. „Kamalakara war der Erste, der es sah: Menschen waren längst, noch vor der Eroberung des Sonnensystems, teils Maschinen, teils Programme. Man musste das nur nach allen drei Seiten hin bewusst entwickeln“ (S. 269, ebenso S. 337).
2Zur Einführung in den Roman soll kurz seine Handlung skizziert werden. Venus siegt ist ein Science Fiction-Roman über Zivilisationen in der fernen Zukunft auf den Planeten, Asteroiden und Monden des Sonnensystems. Im Vordergrund steht das „Bundwerk“ auf der Venus, eine Staatspartei (S. 445), die aus Menschen (B=Biotische), Robotern (D=Diskrete) und Künstlichen Intelligenzen (K=Kontinuierliche) besteht. Das „Bundwerk“, das einmal zum idealen „Freiwerk“ mit der Gleichberechtigung aller Glieder werden soll, ist im Bürgerkrieg gegen die „Verwelter“ entstanden, kapitalistische Kolonisatoren von der Erde, intelligente Fonds, welche ein Terraforming eingeleitet haben. Die Gesellschaft der Venus ist aus Not hoch technisiert, z.B. erlaubt das „schwarze Eis“, ein komplexes futuristisches Material, durch die Erzeugung von Schwerelosigkeit schwebende Städte auf der Venus. Fast noch wichtiger ist die totale kommunikative Vernetzung der Menschen untereinander und mit dem gesamten Wissen durch den intelligenten Schaum („écumen“) und andere direkte Medien wie das „Innenauge“, deren Rezeptoren in den Körpern der Menschen implantiert sind. Grundlage dieser Technologie ist eine neue Mathematik, die das „Toposcoding“ und damit eine Verständigung mit den Robotern und KIs erlaubt. Die Gesellschaft ist im Prinzip demokratisch, wird aber faktisch von einer Elite und der ersten Delegierten, Leona Christensen, regiert, die sich in den internen Auseinandersetzungen und im Kampf gegen den von den Konzernen abhängigen irdischen Diktator Samito selbst zu einer autoritären Diktatorin entwickelt. Sie kann dessen Invasion mit Hilfe anderer Planeten abwehren, aber nach ihrem Tod verfällt das Bundwerk unter ihren unfähigen Nachfolgern und die kapitalistische Konkurrenzgesellschaft der „Diversitas“ breitet sich im Sonnensystem aus.
- 3 Helanders Buch wird im 2. Teil mehrmals als Selbstreflexion des Textes auf sich selbst erwähnt un (...)
3Das Buch präsentiert sich als autobiographischer Bericht des unzuverlässigen Ich-Erzählers Nikolas Helander3, des jüngsten Sohns des getreuen Helfers von Christensen und einer genialen Mathematikerin. Anlass seines Erzählens ist die Begegnung mit seiner Nichte, welche das Bundwerk wieder erwecken will und seine Erinnerungen mit einem Gehirn-Update auffrischt. Der Erzähler steht von Anfang an seinem Vater und der ersten Delegierten kritisch gegenüber, nimmt aber keine konsequente Position ein und ist auch in seiner Liebesbeziehung ungeschickt. Er dient dem Regime in verschiedenen Rollen, was Gelegenheit zu Berichten über die Gesellschaft gibt: die Roboter auf dem Land, Theaterkünstler, die führende KI von Arc und das alternative Leben der „Neukörper“, genmanipulierter Menschen, darunter sein älterer Bruder. Aufgrund interner Kämpfe wird Helander verhaftet und gefoltert, aber schließlich wegen seines unzugänglichen inneren Ichs, das von seiner Mutter programmiert wurde, wieder frei gelassen. Nach dem Sieg über den irdischen Diktator übernimmt er eine Aufgabe auf der Erde, pflegt dort das kulturelle Erbe und beseitigt Kriegsschäden. Der Besuch seiner Nichte in seinem Exil, wohl bei Freiburg im Breisgau, motiviert ihn, seine Erinnerungen, den ersten Teil des Romans, aufzuschreiben, ohne sich für die Rekonstruktion des Bundwerks zu engagieren. Helander verschwindet danach aus dem Roman.
- 4 Vgl. S. 532: „Die Lilaws sind im Grunde nichts anderes als eine gigantische Sicherheitsarchitektu (...)
4Die Fortsetzung, Venus lebt. Eine Erzählung vom geretteten Erbe spielt eine unbestimmbare Zeit nach dem ersten Teil und schildert die Krise der „Diversitas“, einer kapitalistischen und individualistischen Gesellschaft, die durch die Organisation der „Lilaws“ (lebende Verträge), wirtschaftlich ausgerichteter Künstlicher Intelligenzen4, und der Herrschaft des Tridivs, eines von deren Informationen abhängigen menschlichen Dreierkollegiums, bestimmt ist. Es gibt nur noch Reste des Bundwerks und seiner informationellen Grundlage, des Toposcodings, sowie die Erinnerung an seine politischen Ideale. Christensen wird geklont, aber als Köder der Falle für den obersten Polizisten geopfert. Die durch die wirtschaftlichen Schäden des Krieges gegen Samito und die politischen Folgen, nämlich die Degeneration zur Diktatur, untergegangene Gesellschaft der Venus hat vor ihrem Ende, das zentrale Programm fragmentiert, aber die Bruchstücke an verschiedenen Stellen für eine Wiederherstellung verborgen.
Wir haben Topos zerstört, zersetzt, und als die Fonds und die frühen Lilaws schließlich die Venus kolonisierten, waren nur noch Fetzen übrig, in denen auch die KIs zergingen […]. Die Keime waren bewahrt, die Saat war lebendig, allerdings aufgeteilt auf … Kuratorinnen und Geheimnisträger. Die Leute wussten nichts voneinander. Sie sollten erst wieder in Kontakt treten, wenn sich das entstehende neue System der Unterdrückung und Ausbeutung weit genug entwickelt hatte, um reif zu sein für den Angriff. (S. 496)
- 5 Vgl. S. 447: „wenn ein Wald als riesiger Rechner, inklusive Pflanzen und Tiere, Flora und Fauna… (...)
Einer der verborgenen Orte des Überlebens ist die „Kirche des Propheten Johnston“, bei der Gertie Torres, die Nichte und Besucherin Nikolas Helanders, die Beraterin des Cunimundus, einer Art Papst, ist. Die Stützpunkte der Rekonstruktion des Bundwerks, von der der zweite Teil des Romans handelt, sind übrig gebliebene Diskrete wie der Roboter Rojo in Gestalt eines Asteroiden, versteckte Dateien, die Reste der Neukörper auf der Venus und ein „Wald“ in Südbaden, in dem sich Flora und Fauna, Menschen und künstliche Intelligenzen wie „Von Arc“, vermischen5. Koordiniert wird die „DE“ (Diskrete Erhebung) von dem geheimnisvollen Menschen mit dem Signum „KT“ („Koala Transporter“), einem Urenkel von Torres, der im Laufe der Handlung in seinem gestohlenen Raumschiff aufständische Roboter und Menschen sammeln und trotz der Verfolgung durch die Polizei der Lilaws auf die Venus retten kann. Gertie Torres bewirkt inzwischen durch Überflutung mit Daten des Toposcoding eine Überforderung und einen Zusammenbruch der Lilaws und damit auch der bestehenden politischen Ordnung. Das Ende bleibt offen. „,Ordnung… man wird eine neue verhandeln müssen, aber das kann nur gelingen, wenn die lokalen Regierungen, Produktionsleitungen, Militäreinheiten nicht mehr Befehlsempfänger bleiben, sondern sich ins Gespräch einmischen‘“ (S. 533). Das Bundwerk muss also von der Basis her im gesamten Sonnensystem wieder hergestellt werden, nachdem es auf der isolierten Venus als Diktatur gescheitert ist. Es repräsentiert die Utopie einer offenen sozialistischen Gesellschaft, die auf der freiwilligen Kooperation ihrer gleichberechtigten Mitglieder beruht, zu denen über die biologischen Menschen hinaus alle Arten technischer intelligenter Wesen gehören. Außerirdische, die in anderen Romanen Daths wie Pulsarnacht und Veldaváye in großer Zahl agieren, fehlen hier gänzlich.
Die Kooperation der drei verschiedenen Intelligenzformen im Bundwerk
- 6 In einem soziologischen Klassenschema wären die Roboter vergleichbar mit dem Proletariat und die (...)
- 7 Vgl. S. 435: „lernende, beobachtende, rechnende und vernunftfähige Wesen“.
5„Was ihr Roboter nennt und was ihr Künstliche Intelligenzen nennt, sind zwei Extreme, zwischen denen niemand anders vermitteln kann als die Menschen“ (S. 12)6. Das Gemeinsame der drei Gruppen ist nach Dath die Intelligenz, früher hätte man von Vernunft oder Vernunftfähigkeit gesprochen, die sich in Kommunikation und Aktion zeigt7. Am Anfang des Romans werden die beiden nichtmenschlichen Gruppen definiert, zuerst die Maschinen:
Da sind alle, die man frühe Roboter genannt hätte. Maschinen, die das haben, was frühe Seele hieß. Wir nennen sie D/, weil das eine Abkürzung von ‚diskret’ ist. Das bedeutet in Einheiten aufgeteilt. Abgepackt. So heißen sie, weil ihre Seelen nicht aus ihnen rauskönnen. […] Sie sind in den Körpern gefangen, so wie wir, die Menschen. (S. 18)
Ihr Gegensatz dazu stehen die Künstlichen Intelligenzen:
Die K/ sind Seelen, die an keine bestimmten Körper gefesselt sind. Sie sind zunächst etwas wie Algorithmen, so fangen sie an. Aber sie können mehr als Algorithmen, seit sie sich Topos beigebracht haben. (S. 18)
6Mit der Intelligenz ist bei Dath das Bewusstsein und Selbstbewusstsein vorausgesetzt, was mit dem traditionellen Wort „Seele“ bezeichnet wird. Dies fehlt nur den „semisentienten“ Maschinen und Programmen, die nur Routinen bewältigen können (S. 116). Mit dem Bewusstsein verknüpft ist Subjektivität (S. 79), ein Ich (S. 156), und der freie Wille mit der praktischen und juristischen Autonomie der Person. Angesichts der technischen Errungenschaften auf der Venus „kann man das Wort Intelligenz neu definieren und den D/ und K/ mehr Rechte geben, als sie anderswo hatten“ (S. 62). Im zweiten Teil können die neuen, technisch konstruierten Androiden unter günstigen Umständen ihre Programmierung überwinden und in einem sich selbst verstärkenden Lernprozess souverän werden.
- 8 Dies ist eine Anspielung an Daths Roman Die Abschaffung der Arten (2008), mit dem er seinen liter (...)
7Da die Intelligenz im Roman sowohl biologisch auf dem menschlichen Gehirn als auch technisch auf einem Computer oder Server basiert sein kann, ist das Rechnen bzw. Denken entscheidend, das mit Verweis auf eine neue Mathematik als Topos und die Programme als Toposcodierung beschrieben wird. Denken und Bewusstsein kann deshalb als Information, „Hirnimpulse in Code“ (S. 202), maschinell erfasst, kommuniziert, gespeichert und übertragen wird. Der umgekehrte Vorgang, mit dem einige auf der Venus experimentieren, wirft allerdings Probleme auf: „Also sie schreiben K/ in Hirne, die sonst im Schaum leben. K/ auf weiche Hardware, auf unseren Kopfglibber“ und schaffen so „synthetische Persönlichkeiten“ (S. 202). Extremisten sind die, „die unseren Intelligenzbegriff insgesamt revolutionieren wollen: D/ und Menschen zu K/, Menschen zu K/ und D/ machen. Im- und Export von Bewusstsein in alle Richtungen, Aufhebung der Gattungen, Abschaffung der Arten“ (S. 118f.)8.
8Im Roman gibt es keinen speziellen Begriff der Maschine. Die frei beweglichen und selbst gesteuerten Maschinen, die D/, haben Bewusstsein und sind nur von ihren implantierten Programmen und der Kommunikation mit den anderen abhängig. Die K/ haben Selbstbewusstsein und ein Ich erlangt, in dem sie ihre eigene Programmierung erkannten und danach verändern konnten. Sie sind nur noch von einem Träger, in der Regel von einem Computer aber auch von einem menschlichen Gehirn abhängig. Die Menschen können über Topos mit den Maschinen kommunizieren, dazu brauchen sie entweder Implantate, „Écumenplättchen“ (S. 253), die sie gewissermaßen zu Cyborgs machen, oder sie treten mit ihren Körpern direkt in Kontakt mit dem allgegenwärtigen intelligenten „Schaum“.
9Die Solidarität und Kooperation der drei Gruppen des Bundwerks bezieht sich auf die Arbeit und Politik. Es hat sich gezeigt, „dass der Fortschritt der Kooperation zwischen D/, K/ und Menschen eine Effizienzsteigerung erfahren hat, die aus keiner anderen historischen Ära überliefert ist“ (S. 36). Es geht im Roman nicht um erotische und sexuelle Verbindungen, die oft in der Science Fiction, besonders in Filmen phantasiert werden. Der Kuss, den Nicolas Helander einmal dem Androiden Fabien gibt, symbolisiert nur seine Akzeptanz des mechanischen Wesens und vielleicht ihre Freundschaft. „Da küsste mich der Mann, der kein Mensch war, und da küsste ich ihn, weil ich wusste, er wollte an diesem Tag nicht nur vom Alkohol berauscht sein, er wollte auch Menschen lieben dürfen“ (S. 272).
Biologische Manipulation und technische Simulation des Menschen
10Die Verbesserungen und Kopien der Biologie im Roman kann man unter dem Gesichtspunkt der Schaffung des Neuen Menschen sehen, an den der Expressionismus und der Kommunismus dachten, eines transhumanen, verbesserten Menschen, nicht eines posthumanen Übermenschen im Sinne Nietzsches, der den Menschen ersetzt. Es gibt zwei Wege dahin, einerseits die biotechnische Manipulation des bestehenden Menschen und andererseits die Konstruktion eines mechanischen künstlichen Menschen, zu dem die Künstliche Intelligenz eine immaterielle Variante ist. Dath variiert so die Differenz von Mensch („elektrochemischen Leben“, S. 358) und Maschine (mit Mechanik und Information) und die vielfältigen Möglichkeiten ihrer Hybridisierung, Amalgamierung, Transformation und Projektion. Der Umbau des bestehenden Menschen kann durch genetische Manipulation („mutagene Plasmiden“, S. 195) ohne Rücksicht auf die „Erbgesetze“ (S. 63) erfolgen, wie z.B. bei den „Neukörpern“ auf der Venus, zu denen der Bruder Helanders mit Chlorophyll in der Haut (S. 200) und eine Hauptfigur des zweiten Teiles, Gertie Torres, gehört.
Er spürte den weichen Flaum an ihrem Handgelenk, das Erbe der Neukörper, mehrerer Generationen von Menschen, die sich durch rastlose Arbeit sowohl am eignen Genom wie an völlig neuen sozialen und ökologischen Umwelten so weit wie seinerzeit möglich von der Urschablone homo sapiens entfernt hatten. (S. 444f.)
Bei der späteren „innovativen Biologie“ im „Schwarzen Wald“ (S. 446) geht es um hybride Verbindungen von Menschen, Tieren und Pflanzen unter dem Gesichtspunkt von Informationsaustausch und –speicherung (S. 447). Zu den „Viridmenschen“ gehört auch Kuanon, die Geliebte des Priesters Kief, die kein Mensch ist, aber später als virtuelle Person eine Rolle spielt (z.B. S. 481). Biotechnisch verändert sind auch die „Müllfresser“ genannten Menschen, deren Metabolismus die Kunststoffe der vom Krieg zerstörten Erde verwerten kann (S. 326). Angeblich sind überhaupt alle Menschen auf der Venus von den „Verweltern“ genmanipuliert worden: „in den meisten Genomen sind D/ Ideen, lange vor den Neukörpern“ (S. 302). Das Ritual des „Ja“, dem alle wichtigen Personen des Bundwerks unterzogen werden, bewirkt bei den Kindern vor der Pubertät durch ein Bad im Écumen zunächst ein schnelles Erwachsenwerden und dann eine verzögerte Alterung (S. 50). Es handelt sich also um eine Manipulation des Körpers, bei der auch aktuelle Informationen eingespeist werden. Im zweiten Teil des Romans wird ein genetischer Klon von Christensen aus Genspuren hergestellt. Eine Vorstufe zum künstlichen Menschen sind die Implantate, welche im Bundwerk ebenso eine direkte Kommunikation erlauben wie das so genannte „Innenauge“ (S. 17).
Écumen, der Stoff, aus dem unsere Kommunikations- und Produktionsmittel gemacht waren. […] Immer hörte und sah er mich denken. Das lag an der Kontaktplatte in meinem Kopf, die aus denselben kleinsten Teilen bestand wie der sogenannte Schaum, aus Écumuli, vielen Tausenden, schließlich Millionen. Oft konnte ich durch ihn hören und sehen, was andere dachten: Menschen, Maschinen und ungebundene, mit Bewusstsein von sich selbst gesegnete Algorithmen. (S. 18)
Die Aufnahme von Informationen des Écumen, der von K/ durchsetzt ist, erfolgt durch den menschlichen Körper ebenso wie die Verbindung mit den Lilaws im Bad der Trivids. Noch weiter geht die Idee, Menschen auf andere herunter zu laden. „,Kamalakara schrieb sich als Programm. Und Laukkanen lud dieses Programm in ihren Kopf und reicherte es mit ihrer persönlichen Erfahrung an, und das Ergebnis wurde, als Laukkanen starb, zum Update auf dem Backup…‘“ (S. 338).
11Eine Annäherung von der anderen Seite, des künstlichen Menschen an den biologischen, stellt die Umgestaltung der D/ dar, so dass sie wie Menschen aussehen und auch essen und trinken können. Ein markantes Beispiel ist Fabien, der als Androide bezeichnet werden kann und im zweiten Teil als bloßer Arm noch souverän handeln kann. Hierher gehört das Interesse mancher K/ für einen Körper (S. 247, 389) und die Fähigkeit der wichtigsten K/, Von Arc, als Avatar oder virtuelle Person aufzutreten (z.B. S. 71). Tatsächlich wird aber die gewünschte Verkörperung der K/ wie die geplante Befreiung der D/ von ihrer materiellen Beschränkung letztlich nicht realisiert. Die Kategorien bleiben grundsätzlich getrennt trotz ihrer jeweiligen Weiterentwicklung.
12Unbestreitbar Maschinen sind die künstlichen Menschen, da sie aus mechanischem Material gefertigt sind, das durch eine Computersoftware gesteuert wird. Diese erscheinen im Roman in zweifacher Form, als „Killerkinder“ und als „Lustmädchen“. Automaten sind auch ihre „dümmeren Cousinen und Cousins“ (S. 464), die kein Selbstbewusstsein besitzen und z.B. nur zur Überwachung eingesetzt werden. Das Lustmädchen Björk ist anatomisch überhaupt nicht menschenähnlich, denkt und handelt aber wie ein Mensch. Das einzige Problem ihrer Menschenähnlichkeit scheint darin zu bestehen, dass sie in ihrer „Zentralrecheneinheit“ (S. 462) zum Dienen programmiert ist und erst allmählich zur Selbstbestimmung kommen kann. Das Buch Helanders war „eines der ersten Bücher, deren Inhalte in Björks Seele aus Rinnsalen der Wahrscheinlichkeit und Unwahrscheinlichkeit des Eigensinns die Kaskade zum Gesetzesbruch, zur Auflehnung genährt hatten“ (S. 457). Ihr „randomisierter freier Wille“ besteht in der Zufälligkeit und Unvorhersehbarkeit ihrer Entscheidungen. „Mich hat man so komplex gemacht, dass niemand vorauswissen kann, was ich denken werde. Mehr freier Wille ist unmöglich“ (S. 455). Die Killerroboter oder -Androiden sind anscheinend anatomisch menschenähnlich, aber nach dem Gesichtspunkt der Effizienz, teils mechanisch, teils genetisch konstruiert:
ein körperlich kleiner, aber tüchtiger Mörder in Diensten der Lilaws, mit Knochen aus einem Material, das in leicht abweichender Zusammensetzung vor langer Zeit auf der Venus „schwarzes Eis“ genannt worden war, mit Fleisch aus etwas, das eine aufgelockerte, luftigere Variante desselben Materials darstellte und von gewöhnlicher Materie […] nicht zu verletzen war, atmend, in Zellen aufgeteilt, in denen es Zellkerne gab, die das Erbgut aufbewahrten, aus dem man den Mörder gezüchtet hatte. (S. 395)
Die Killer sind in ihrem Bewusstsein direkt mit ihrem Vorgesetzten verbunden, aber vollziehen selbst, zielbewusst planend ihren Tötungsauftrag. „Ich bin kein Mensch. Ich habe bis zu einem gewissen Grad einen eigenen Willen“ (S. 409). So kann es bei einem Automaten namens Jephraim zu einer plötzlichen Umkehrung der Parteinahme zu Gunsten der Rebellen kommen. Auslöser ist die Nachricht in seinem „Innenauge“ „VENUS LEBT RENDEZVOUS KT“ (S. 407). Was wie eine mechanische Umkehrung wirkt, ist die Folge von „Entscheidungen, die langsam in mir gereift sind“ (S. 410). Um zur vollständigen Selbstbestimmung zu kommen, muss der Killer die automatische Verbindung zu den Lilaws unterbrechen und seine Prägung mit Hilfe einer fremden Software löschen. Erst die Emanzipation von ihrer Programmierung macht die beiden Automaten zu einer Art Menschen, Intelligenzen mit Selbstbewusstsein und Selbstbestimmung. Das Gegenbeispiel sind die künstlichen Wesen des Diktators Samito, „die ja wohl keine Subjekte sind, auch rechtlich nicht, […] ein Paradox: Sklaven, die man zwingt zu herrschen“ (S. 97).
13Erst im zweiten Teil tritt die Fülle der Variationen von Menschen und intelligenten Maschinen außerhalb des Bundwerks als Steigerung der biologischen und technischen Manipulationen auf. Im Schwarzen Wald werden Pflanzen in die Genexperimente einbezogen und es entstehen bizarre Hybride. Die spezialisierten künstlichen Menschen, Androiden, stellen eine neue Klasse der D/ in der Richtung von Fabien dar, die Lilaws als souveräne Lenker der Wirtschaft im Sonnensystem sind eine Fortentwicklung und Verallgemeinerung der vorher nur arbeitsteilig einbezogenen funktionellen K/, die aber nicht bis zum Selbstbewusstsein und zur Selbstbestimmung gelangen.
14In dem gestohlenen Raumschiff sind fast alle Arten von Intelligenzen versammelt, um gleichberechtigt, aber arbeitsteilig die Rekonstruktion des Bundwerks zu bewerkstelligen: der Mensch mit dem Code KT, der ein Nachkomme der Neukörper ist und im Koma Informationen verarbeitet; der Priester Kief, ein manipulierter „Müllfresser“; eine D/, die mehrere Transformationen erlebt hat, von einer Riesenmaschine („Tausendfüßler“) zu einem Androiden und schließlich zu einem autonom handelnden Arm; die virtuelle Person eines genetischen Hybridwesens und der Avatar der ehemaligen Superintelligenz des Bundwerks, die beide das Gehirn des Priesters als Träger nutzen; schließlich zwei künstliche Menschen, zum Töten bzw. zur Lust konstruiert, die ihre frühere Programmierung überwunden haben. So scheint es, dass alle Arten von biologischer Manipulation und technischer Simulation des Menschen möglich und durch ihre Mitwirkung bei der Neuerrichtung einer utopischen Gesellschaft gerechtfertigt sind.
Eine transhumane Gesellschaft?
15Dath lässt in seinem Roman Venus siegt seiner Phantasie voll die Zügel schießen und entwickelt die Biotechnologie mit genetischen und anderen Veränderungen des Menschen und seiner teilweisen oder vollständigen Angleichung an mechanische und kybernetische Maschinen in alle Richtungen. Ein Schwerpunkt liegt auf dem Weiterdenken der Computertechnologie und Informatik zur genuinen Künstlichen Intelligenz und zum Verschmelzen von Biologie und Rechenmaschine. Gestützt wird im Roman die Annäherung, Vermischung und der Übergang von einer Kategorie in eine andere durch den Rückgriff auf moderne und weitergedachte Mathematik, die Topostheorie und Kategorienlehre. „‚Das heißt, ein Ding wird ein anderes Ding nach einer Vorschrift der Veränderung‘“ (S. 20). „,Wir gehen von Morphismen aus, von Abbildungen von Funktionen, Transformationen‘“ (S. 126). Morphismen stehen im Vordergrund als das „,was mit Elementen und Mengen und anderen Objekten passiert, wenn man sie ineinander überführt, aufeinander abbildet‘“ (S. 127).
16Indem Dath eine Kommunikation und Kooperation aller Arten von Intelligenzen, begabt mit Bewusstsein und Subjektivität, imaginiert, entwirft er eine transhumane Gesellschaft, aber nicht im strengen Sinne, denn die Grenzüberschreitungen der Biologie und Technik sind rückgebunden an einen Begriff der Intelligenz, der der menschlichen Vernunft entspricht. Deshalb sollte man eher von einer offenen, um Maschinen erweiterten und biologisch und technisch fortentwickelten menschlichen Gesellschaft sprechen. Alle Menschen auf der Venus sind in gewissem Sinne genmanipuliert oder eine Art von Cyborg. Durch den Toposcode sind sie nicht nur untereinander und mit den D/ und K/ intensiv verbunden, sondern ihr Denken ist im Prinzip zur Information, zu technisch übertragbaren Daten geworden. Für die Zukunft nach dem Ende des Romans gilt: „Alle werden Toposcoder, wie es schon im Bundwerk war. Niemand muss draußen bleiben, aber die Kehrseite ist, niemand darf draußen bleiben, jedenfalls nicht auf Dauer“ (S. 534). Entscheidend ist Daths strikte Ablehnung einer Ausschließung der anderen Arten von Intelligenz und der Herrschaft über sie, den er bei einem Vortrag in der Universität Köln 2019 ausdrücklich bekräftigte.
17Allerdings ist die ‚klassenlose Gesellschaft’ der Intelligenzen eher als Ideal des zukünftigen „Freiwerks“ anzusehen. Der später entmachtete Vuletic sagt in seiner großen Rede. „Wenn erst die Diskreten und die Kontinuierlichen den Bund mitsteuern, wenn erst die ersten festen Feedbackschlaufen etabliert sind, dann wird […] der Unterschied zwischen Menschen, Diskreten, Kontinuierlichen und Neukörpern […] bedeutungslos werden“ (S. 39). Vom Bundwerk gehen Gerüchte über die Übertragung von Daten zwischen Gehirnen und Maschinen.
— Er will uns in den Schaum laden.
— Ja, und umgekehrt Schaumintelligenzen in Hirne holen. […] Sie experimentieren mit Unfallopfern, deren ZNS kaputt ist. Es wird wieder aufgebaut, und dann wird ein neues Bewusstsein draufgespielt, synthetische Persönlichkeiten, in Zusammenarbeit mit K/ geschrieben. (S. 202)
- 9 Vgl. Ray Kurzweil: HOMO S@PIENS. Leben im 21. Jahrhundert – Was bleibt vom Menschen? Köln 1999.
Manche Hybride und Transformationen werden als zu weitgehende Experimente bezeichnet, so z.B. die der detailliert angeführten ausufernden der Neukörper (S. 110), die nur noch an der Freude am Spiel gemacht werden (S. 195). Auch mit der Übertragung von menschlichen Gedanken auf Maschinen und umgekehrt hat man experimentiert um „Bewusstsein direkt am Hirn abzutasten und in Signale zu übersetzen, die dem Toposcode zugänglich sind – das Herunterladen von Seelen, sagt der Volksmund“ ist aber vom Ziel „mehr und mehr abgekommen“ (S. 110). Ein Führer des Bundwerks hält es nicht für realisierbar, „wenn wir uns alle zu Programmen machen ließen, die dann im Schaum erwachen, sobald unsere biologische Existenz beendet ist“ (S. 119). Abgelehnt wird damit vor allem die Konservierung von Individuen auf Computern, um sie unsterblich zumachen, wie es Kurzweil und andere Pioniere einer starken künstlichen Intelligenz erhofften9. Es handelt sich aber um
[…] übertrieben optimistische Ideen, wie der einer allgemeinen Auswanderung aus dem schmerzenden Fleisch in die haltbareren Maschinen etwa, die materialistische Variante des alten idealistischen Aberglaubens, vom ‚Ich’ ließe sich irgendetwas eben doch auf Dauer halten. (S. 438)
Auch die „innovative Biologie“ im Schwarzen Wald ging nach dem Urteil von Gertie Torres zu weit (S. 446). Gegen Ende des Romans bricht sie auch eine Lanze für die Biologie und gegen die Maschinen. „Die K/ müssen das Biotische respektieren, weil es das über Jahrmillionen ausdifferenzierte beste Modell ist für […] eine irreduzibel wahrscheinlichkeitsparametrisierte Software-Entwicklung. Die Wahrscheinlichkeit, dass ein Organismus sein Erbgut weitergibt“ (S. 534). Man beachte die sprachliche Parallele von biologischer Determinierung und technischer Programmierung, die für den Roman typisch ist.
- 10 Vgl. S. 437: „Menschen waren durch Maschinen berechenbar geworden, und Maschinen lernten Menschli (...)
18Entschiedene Ablehnung erfahren im Roman aber die Vermischungen von Menschen mit Maschinen im Reich des Diktators Samito. Hier ist „jeder Mensch ein halber D, in den Extremitäten, im Kopf im Verdauungstrakt umfassend mechanisiert, exochemisiert, im Kopf mit photonisierten Kontaktplatten versehen, über die seine Führung jederzeit ihre Befehle ausgeben und ihre Untertanen kontrollieren konnte“ (S. 306). Wird dabei die Selbstbestimmung der Menschen in Frage gestellt, so in der späteren Diversitas die Differenz von Mensch und Maschine: „hier sind die Maschinen ein Teil von ihnen [den Menschen], und sie sind ein Teil der Maschinen, aber der Preis dafür ist hoch: Es gibt gar keine Menschen mehr“ (S. 328)10. Offensichtlich wird im Roman der Verlust der Autonomie abgelehnt und es gibt einen Vorbehalt gegen Vermischungen und Hybridität.
- 11 Stanislaw Lem: Also sprach GOLEM. Frankfurt am Main 1984.
19Es bleibt als Prinzip des Romans die Gleichwertigkeit, Kommunikation und Kooperation jeder Art von Intelligenz, da alle ihre möglichen Ausprägungen biologischer oder technischer Natur als parallel und letztlich analog zu Menschen als Vernunftwesen angesehen werden. Maß und Art der Intelligenz, abweichende Denk- und Verhaltensweisen, Interessengegensätze und Missverständnisse wie sie Stanislaw Lem thematisiert, fehlen in diesem Roman vollständig. In den Gesprächen zwischen der K/ Von Arc und Helander zeigt sich zwar das überlegene Wissen der künstlichen Intelligenz, aber die Konversation verläuft mit Anspielungen und Ironie so, wie es einem rein rationalen Wesen kaum zuzutrauen ist (z.B. S. 121ff.). Dagegen sind besonders in Lems Darstellung von Supercomputern, Also sprach Golem11, diese den Menschen nicht nur in Rechenleistung, sondern auch in Vernunft haushoch überlegen und wirken fast göttlich. Golem kann sich nur partiell verständlich machen, indem er sich in seiner Rede zu dem niedrigen Niveau der Zuhörer herablässt. Man könnte eher an Isaac Asimovs Robotergeschichten denken, wo entweder mechanische Roboter nur sklavenartig Hilfsdienste verrichten oder als Sonderfall der „Zweihundertjährige“ durch zunehmende geistige (Kunstausübung) und materielle Anpassung (biologische Organe) schließlich zu einem Menschen wird, der auch als solcher juristisch anerkannt wird.
20Bei Dath bleiben die verschiedenen Kategorien von Intelligenzwesen autonom und letztlich getrennt, weder ist Vermischung, noch Angleichung ein anerkanntes Ziel. Ihre Verbindung ergibt sich aus der Allgemeinheit der Intelligenz, die eine Ähnlichkeit ihrer Erscheinungsweisen im Sinne des in den mathematischen Exkursen des Romans hervorgehobenen Morphismus bedingt. Es gibt aber auch keine feststehende Identität z.B. der durch Erbgesetze genetisch determinierten Menschen, noch der unveränderlichen mechanischen Maschinen, sondern experimentelle Veränderung und permanente Fortentwicklung sind Konstanten ihrer Existenz.
21Es bleiben für den Leser aber zwei offene Fragen, auf die der Roman kaum eingeht, nämlich die nach dem Wesen und der Universalität der Intelligenz, sowie die nach der Vereinbarkeit von biologischen Menschen und technischen Maschinen. Im Text selbst wird die von den Gegnern des Bundwerks angezweifelte Allgemeinheit der Intelligenz nicht ausdrücklich verteidigt.
Christensen und ihre Helfershelfer glaubten, man könne das Spezifische am Roboterbewusstsein, am freien Netzbewusstsein, am Menschenbewusstsein ignorieren und ein abstraktes allgemeines Bewusstsein verwirklichen. Intelligenz an sich. Weil aber die Einzelnen nicht gleich sind, hat dieser Versuch sie deformiert, statt sie zu befreien.(S. 446)
- 12 Alan Turing: “Computing Machinery and Intelligence”. In: Mind 49 (1950), S. 433-460.
Die Differenz von Mensch und Maschine, z.B. die von Alan Turing aufgeworfene und viel besprochene Frage „Können Maschinen denken“ wird nicht erörtert12, sondern durch konkrete Szenen überspielt, so dass eine Parallelität von Geist und Materie, biologischem Körper und Technik als natürlich erscheint. Eine höhere Intelligenz wird fraglos als mit Bewusstsein, Selbstbewusstsein und Eigenwille begabt angesehen. Das bewusste Denken kann sowohl ein menschliches Gehirn als auch einen Computer zur Basis haben. Dies ist aber bisher nur ein Wunschtraum mancher Forscher und in der Realität nicht absehbar. Was Mensch und Maschine in diesem Roman verbindet, ist die Auffassung von Denken und Rechnen gleichermaßen als Information, deren Übertragung durch den Toposcode gewährleistet wird. Auch dies ist ein futuristischer Vorgriff oder eine Spekulation, wie sie aber in der Science Fiction legitim und manchmal nötig ist.
22Dath umgeht mit dem kybernetischen Konzept der Information das oft diskutierte Problem, dass eine rein rationale Maschine weder Gefühle noch Intuition und Kreativität haben soll und kann. Dabei kommt ihm zugute, dass es im Roman nur um Organisation von Arbeit, Naturbeherrschung und Politik geht, die als kybernetische Aufgabe lösbar scheint. Auf der anderen Seite gibt es den interessanten Versuch, Programme in Analogie zu Nervenfasern anschaulich zu machen und so die Differenz von Geist und Materie zu überbrücken. In folgender Szene ist Gertie Torres im Kommunikationsbad dabei, im Endkampf die Lilaws durch Überflutung mit Toposcode zu lähmen.
Kein Mensch mehr, eine weiße, über und über mit knochenweißem Pelz bedeckte Erscheinung stand da bis zum Hals im Becken, ein Wesen, aus dessen oben offenem Schädel ein Strauß blauer Nesseln wuchs, Tausende engelshaarfeiner Fasern, die über ihr eine Art Baldachin bildeten, der hier und da in geflochtenen Bündeln in die Flüssigkeit hinunter hing, die blausilbern, chromgrün und lackrot schimmerte, wirbelte, leuchtete, sang. (S. 530f., S. 410)
- 13 Darko Suvin: Poetik der Science Fiction. Frankfurt am Main 1979, S. 27. Original: Pour une poétiq (...)
Der von Dath genannte mathematische Schlüsselbegriff des Morphismus bedeutet in der Literatur Metaphorik. In diesem Sinne soll zum Schluss die technische Perspektive in die politische und gesellschaftliche übertragen werden, zugleich aus einer fiktiven fernen Zukunft in ein Ziel der Gegenwart. Wenn man den Roman Daths nach Suvin als Verfremdung einer gegenwärtigen Situation liest13, so ergibt sich das Ideal einer Gesellschaft, die von allgemeiner Inklusion und dynamischer Entwicklung geprägt ist. Vor dem Hintergrund der politischen Anspielungen auf die russische Revolution und den Marxismus könnte man von einer klassenlosen Gesellschaft als Ziel des Kommunismus sprechen, wegen der Betonung der Freiheit, Gleichberechtigung und Kooperation der verschiedenen Arten von Intelligenz auch von der Parole der Französischen Revolution: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit. Das Mittel dazu ist im Roman eine futuristische Technik besonders für die Kommunikation und Information, also ein typisches Merkmal von Science Fiction, die in ihrer philosophischen Version die Gleichberechtigung aller Vernunftwesen voraussetzt.
Notes
1 Dietmar Dath: Venus siegt. Lohmar 2015 und Dietmar Dath: Venus siegt. Frankfurt am Main 2016. Aus dieser Ausgabe werden im Folgenden alle Zitate mit einfachen Seitenzahlen zitiert.
2 Vgl. Stefan Herbrechter: Posthumanismus. Eine kritische Einführung. Darmstadt 2009.
3 Helanders Buch wird im 2. Teil mehrmals als Selbstreflexion des Textes auf sich selbst erwähnt und sogar auf S. 457-460 charakterisiert. Dabei geht es auch um seine Wirkung als Anstoß zur Rebellion.
4 Vgl. S. 532: „Die Lilaws sind im Grunde nichts anderes als eine gigantische Sicherheitsarchitektur für ein System von Besitz und Hierarchie. […] Die Lilaws basieren auf Herrschaft. Wissen wird vorenthalten, Wissensdifferenzen werden ausgenutzt.“
5 Vgl. S. 447: „wenn ein Wald als riesiger Rechner, inklusive Pflanzen und Tiere, Flora und Fauna… ich meine, es geht da um ein paar Schnittstellen zu den menschlichen Waldbewohnern […]. Man muss nur begreifen, dass Menschen auch zur Fauna gehören. Und da im ursprünglichen Plan […] von Anfang an Hybride zwischen Tier und Pflanze vorgesehen waren.“
6 In einem soziologischen Klassenschema wären die Roboter vergleichbar mit dem Proletariat und die KIs mit der Intelligenz.
7 Vgl. S. 435: „lernende, beobachtende, rechnende und vernunftfähige Wesen“.
8 Dies ist eine Anspielung an Daths Roman Die Abschaffung der Arten (2008), mit dem er seinen literarischen Durchbruch als Science Fiction-Autor schaffte.
9 Vgl. Ray Kurzweil: HOMO S@PIENS. Leben im 21. Jahrhundert – Was bleibt vom Menschen? Köln 1999.
10 Vgl. S. 437: „Menschen waren durch Maschinen berechenbar geworden, und Maschinen lernten Menschliches so gut, dass Menschen dazu neigten, diese Maschinen zu vermenschlichen.“
11 Stanislaw Lem: Also sprach GOLEM. Frankfurt am Main 1984.
12 Alan Turing: “Computing Machinery and Intelligence”. In: Mind 49 (1950), S. 433-460.
13 Darko Suvin: Poetik der Science Fiction. Frankfurt am Main 1979, S. 27. Original: Pour une poétique de la science-fiction. Québec 1977.
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Référence papier
Hans Esselborn, « Transhumane Entwicklungen in Dietmar Daths Roman Venus siegt (2015) », Recherches germaniques, HS 17 | 2022, 97-109.
Référence électronique
Hans Esselborn, « Transhumane Entwicklungen in Dietmar Daths Roman Venus siegt (2015) », Recherches germaniques [En ligne], HS 17 | 2022, mis en ligne le 07 juillet 2022, consulté le 17 avril 2024. URL : http://journals.openedition.org/rg/8069 ; DOI : https://doi.org/10.4000/rg.8069
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